Die chinesische Kalligraphie ist Schreiben mit Pinsel und Tusche auf saugfähigem Papier. Die Tusche dringt augenblicklich in das Papier ein und verbindet sich unauslöschlich. Schrift entsteht im gegenwärtigen Augenblick, ohne Zögern, ohne Korrektur, ohne Bedauern. Beim Schreiben mit dem Pinsel legt man im Rhythmus des Schriftzeichens eine Tuschespur aufs Papier. (bokuseki, «Tuschespur» wird für Kalligraphien von Zen-Mönchen, insbesondere vor dem Tod verwendet.) Diese Art des Schreibens hat Parallelen zum Tanz.
Die chinesische Kalligraphie wurde schon immer als Bildung im weitesten Sinne verstanden, als Erlangen eines tiefen Verständnisses für eine Geisteskultur und als persönliche Charakterbildung. Das chinesische Wort „shufa“ bzw. das japanische Pendant «shodô» bedeutet «Weg des Schreibens», Weg ist hier verstanden als Lebensweg und als lebenslange Bemühung um die Verwirklichung seiner Ideale. Darin zeigt sich die Nähe zu den Meditationswegen, insbesondere zum Zen-Weg. So praktiziert man Schriftkunst selbstvergessen, voll konzentriert und gegenwärtig.
Jean François Billeter sagt über die chinesische Kalligraphie:
Die chinesische Kalligraphie ist weder akkurat noch eine Schönschrift. Sie meidet die willkürliche Stilisierung der Formen und noch mehr die dekorativen Zusätze. Das einzige Anliegen des chinesischen Kalligraphen ist es, seinen Zeichen Leben einzuhauchen, sie lebendig werden zu lassen ohne sie in etwas hineinzudrängen. Er stellt seine Sensibilität in den Dienst der Schrift und kommt dann durch eine subtile Wendung dazu, sich der Schrift zu bedienen, um seine persönliche Sensibilität auszudrücken. Dank dieser Umkehr wird die chinesische Kalligraphie zu einem Ausdrucksmittel von ausserordentlichem Reichtum und grosser Feinheit.
Sie eignet sich für diese Art der Entwicklung aus zwei Gründen: Zuerst, weil sie einen praktisch unerschöpflichen Formenschatz anbietet, mit dem kein Alphabet mithalten kann, und weiter, weil der Pinsel kein so primitives Werkzeug wie die Feder ist, sondern ein Instrument, welches mit der Detailtreue eines Seismographen die feinsten Richtungsänderungen der Geste registriert, wie auch seine abrupten Schlenker. Der chinesische Kalligraph bedient sich dessen, um die Kräfte einzufangen, welche aus seinem tiefsten Inneren kommen. Während der westliche Kalligraph angehaltene Formen erzeugt, ist die chinesische Kalligraphie in ihrem Wesen eine Kunst der Bewegung. („Essai sur l’art chinois de l’écriture et ses fondements“, S11)
Da Japaner und Chinesen weitgehend die gleichen Schriftzeichen verwenden und die gleichen Schreibstile anwenden, sind beide Arten der Kalligraphie sehr ähnlich.